Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner in Alten-und Pflegeheimen haben inzwischen die erste und auch die zweite Impfdosis im Rahmen der Corona-Schutzmaßnahmen erhalten. Angesichts gesunkener Zahlen der Infektionen und Todesfälle in diesen Einrichtungen könnten dort die gravierenden Besuchs- und Freiheits-Einschränkungen zurückgenommen werden. Doch in der Realität werden diese Chancen nicht nimmer genutzt. So berichtete ein Wallenhorster Bürger folgendes:
„Ich habe heute meinen 96jährigen Vater in ein Osnabrücker Altenheim nach einer Zeitvorgabe der Einrichtung begleitet. Nach 50 Minuten musste ich das Heim verlassen, weil die offizielle Besuchszeit endete. Tatsächlich habe ich meinen Vater aber nicht besucht, sondern ihn in einen neuen, unabdingbaren Lebensabschnitt begleitet. Eine Einrichtung „seines Zimmers“ mit persönlichen Gegenständen war allein aus Zeitgründen nicht möglich.
Morgen darf ich ihn nicht sehen, weil es dann keine Besuchszeiten gibt. Erst Übermorgen zwischen 15:00 und 17:00 Uhr ist ein Wiedersehen möglich.
Mein Vater muss 14 Tage lang auf seinem Zimmer bleiben und darf es nicht verlassen, obwohl er ebenso wie ich gestern bei seinem Hausarzt einen PCR-Test machen ließ. Beide Tests waren im Übrigen negativ.
Die Heimbewohner sind bereits gegen Corona geimpft. Die Heimleitung hat die beschriebenen Rahmenbedingungen mit den Bestimmungen der Corona-Verordnung begründet.“
In der aktuellen Corona-Verordnung des Landes Niedersachsen heißt es in §14 zu Besuchsrechten und Neuaufnahmen in Heimen: Die Leitung von Heimen … hat in einem Hygienekonzept … auch Regelungen zur Neuaufnahme und zum Besuch von Bewohnerinnen und Bewohnern in den Einrichtungen zu treffen mit der Maßgabe, dass deren Besuchsrechte nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden.
Die Hygienekonzepte erarbeiten die Heime in Abstimmung mit den Gesundheitsämtern. Sie orientieren sich dabei an der Richtlinie des Robert-Koch-Instituts. Darin ist zu lesen: Bewohner*innen bzw. betreute Personen ohne Symptomatik sollten möglichst für 14 Tage jedoch mindestens für 7 Tage vorsorglich abgesondert (Einzelunterbringung, ggf. Kohortierung) werden.
Die konkrete Ausgestaltung der Besuchs- und Aufnahmeregelungen ist also Angelegenheit der Heimleitungen. Das führt zu individuellen Entscheidungen in den Einrichtungen, zu weniger Klarheit, Gleichheit und somit letztlich zu mehr Ungerechtigkeit. Die Ereignisse der vergangenen Monate haben deutlich gemacht, wie sehr die Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen durch das Corona-Virus gefährdet sind. Die Corona-Ausbrüche in Altenheimen in der Region Osnabrück in den vergangenen Wochen zeigten, dass auch der abgeschlossene Impfprozess nicht alle Risiken beseitigt. Daher ist nachzuvollziehen, dass sich die Leitungen von Alten- und Pflegeheimen bei der Erarbeitung von Hygienekonzepten eng an der Richtlinie des RKI orientieren und diese Regelungen teilweise sehr restriktiv handhaben. Gleichzeitig muss aber auch die persönliche Situation jedes einzelnen Bewohners berücksichtigt werden.
Solange es das Corona-Virus gibt, müssen wir davon ausgehen, dass trotz Impfung und Einhaltung der AHA-Regeln weiterhin Infektionen auch in den Altenheimen vorkommen, die aber nach derzeitigem Stand keine schweren Covid-19 Verläufe bedingen. Bei aller berechtigten Sorge um die Gesundheit von Heimbewohnern kann es nicht sein, dass einige von ihnen eine Zeit lang in einer gefängnisähnlichen Atmosphäre leben müssen. Und dass es allein den Heimleitungen obliegt, wie sie mit dieser Situation umgehen.
Auch der Deutsche Ethikrat spricht sich dafür aus, die besonderen Freiheitsbeschränkungen für Bewohnerinnen und Bewohner in Pflege-, Senioren-, Behinderten- und Hospizeinrichtungen für Geimpfte aufzuheben. Er weist zu Recht darauf hin, dass die Belastungen für diese Personengruppen „erheblich über das hinausgehen, was andere Bürgerinnen und Bürger erdulden müssen“. Das betrifft Ausgangs- und Besuchsbeschränkungen sowie Kontaktbeschränkungen innerhalb der Einrichtungen wie etwa den Verzicht auf gemeinsame Mahlzeiten und Gruppenangebote. Diese Sonderbelastung sind nur zu rechtfertigen, solange diese Menschen noch nicht geimpft sind.
Die Bundesgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO e.V.) unterstreicht, dass es nicht um Vorteile, sondern um die Rücknahme besonderer Nachteile für eine in der Corona-Pandemie besonders schwer belastete Personengruppe geht. Sie weist zudem darauf hin, dass es für die oben genannten Freiheitseinschränkungen nicht nur ethische, sondern auch klare rechtliche Grenzen gibt. Eine niemals zu rechtfertigende Verletzung der Menschenwürde liege in jedem Fall vor, wo Menschen aufgrund von Besuchsverboten einsam sterben müssen.
Die Schutzpflicht, die staatliche Behörden und Einrichtungen für Senioren ausüben müssen, bezieht sich nicht nur auf das Vermeiden einer Ansteckung mit COVID-19, sondern auch auf die Grund- und Freiheitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner und ihrer Angehörigen. Hygienepläne sollten daher darauf ausgerichtet sein, Besuche in Sicherheit zu ermöglichen, nicht sie zu verhindern.
Noch immer bestehende Isolationsmaßnahmen in Pflege- und Senioreneinrichtungen sollten für geimpfte Personen mit dem Fortschreiten des Impfprogramms so schnell wie möglich aufgehoben werden. Bei Einhaltung von Infektionsschutzmaßnahmen wie Tests, Abstand, Hygiene, Masken und Lüften sollten Begegnungen ermöglicht werden.